Impressionen nach einem Jahr Online-Lehre

Prof. Karin Lackner mit einer persönlichen Bilanz bezüglich Online-Lehre.

1 Vorboten und Vorerfahrungen

Anfangs dachte ich noch, prozessorientierte Lehre wäre im Onlineformat undenkbar. Zwar hatten wir als Berater_innen, Lehrende, Coaches und Supervisor_innen auch schon vor der Coronakrise Berührungen mit Online-Experimenten in Lehre und Beratung. Damals eher ein „Add On“ in meiner Beratungstätigkeit, mit dem ich gerne mal experimentiert habe. Aber es war mehr ein spielerischer Zugang, motiviert von der Neugierde mal etwas Neues auszuprobieren; allerdings mit dem Sicherheitsnetz im Hintergrund, dass ich jederzeit auf eine Präsenzberatung hätte zurückgreifen können. Auch im Vorlesungsbetrieb der Universität wurde schon mit Videoübertragungen gearbeitet. Dass ich von einem Kamerateam während meiner Vorlesungen begleitet wurde, dass meine Vorlesungen im Internet hochgeladen werden konnten – die technischen und darstellerischen Herausforderungen faszinierten mich. Die Aufzeichnungen waren eine sinnvolle und notwendige Erweiterung des Vorlesungsbetriebes, um der Raumknappheit in den Hörsälen entgegenzuwirken. Zwar waren die Hörsäle immer zu einem Drittel voll besetzt, eine nicht erfassbare Anzahl von Studierenden jedoch weilte zu Hause auf dem Sofa, das Notebook in Reichweite. Dass sich die Studierenden an den Bildschirmen rege im parallel laufenden Chat an den Inhalten beteiligten – mehr als sie es in dem Präsenzformat getan hätten, freute mich einerseits, brachte mich aber in Bedrängnis, der Gleichzeitigkeit von Vortrag, Blick auf die Anwesenden, deren Fragen und der permanent scrollenden Chatleiste auf meinem Bildschirm gerecht zu werden. Auch die haptischen Einschränkungen machten sich schon damals bemerkbar. Bildschirmpräsentationen (die ebenfalls heruntergeladen werden konnten) ersetzten Flipcharts, Pinnwände und Tafelskizzen. Vor allem letztere verschwanden aus dem Präsentationsrepertoire. Spontan mal was hingemalt brachte das Kamerateam ins Schleudern. Selbstverständlich gab es auch schon vor Corona-Krisenzeiten Videokonferenzen in unseren Organisationswelten. Da jedoch dieser Text auf Online-Lehre fokussiert, wird auf die organisationalen Online-Kommunikationen nicht näher eingegangen.

2 Online-Routine

Die geschilderten Phänomene treten auch heute in Online-Veranstaltungen auf. Vortrag mit Bildschirmpräsentationen, Bedienung der Anfragen aus dem Chat, einfache Skizzen auf der virtuellen Pinnwand – das alles konnte relativ schnell gelernt werden, und es entwickelte sich – rückblickend – unglaublich rasch eine Online-Routine. Selbst die Tatsache, dass kein Kamerateam zur Stelle war, ich sozusagen Handlangerin meiner eigenen Regie und Technik war, verursachte keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Mithilfe von Erfahrungsaustausch unter Kolleg_innen, eigenem Experimentieren (und Scheitern), Lernen unter Anleitung (z.B. durch die eigenen Kinder), u.a.m. konnte ich mir ein einigermaßen brauchbares Repertoire an Online-Didaktik antrainieren.

3 Emotionales Ungemach

Online-Lehrerfahrungen und das Handling der Technik ersetzen nicht ein wesentliches Präsenzphänomen, das durch keine technische Lösung gelöst werden kann und zudem nicht logisch erklärbar ist. Die Präsenz aller Teilnehmenden in einem Hörsaal, Seminar- oder Workshopraum schafft eine nicht näher bestimmbare Atmosphäre. Auch in einem Vortragssaal, der mit 300 oder mehr Teilnehmenden besetzt ist, hatte ich das Gefühl, ich konnte selbst die Personen in den letzten Reihen erreichen. Ich spürte quasi deren Aufmerksamkeit oder Langeweile und konnte darauf reagieren. Aufmerksamkeit beflügelte mich, Langeweile schränkte mich ein. Fragen aus dem Publikum hatten – anders als im geschriebenen Chat – einen Unterton, der manchmal mehr Aussagekraft hatte als die bloßen Worte. Zwischen mir und den Teilnehmenden gab es eine Interaktion jenseits der gesprochenen Worte. Das, was ich atmosphärisch nennen würde, bekomme ich nicht oder nur bedingt über den Bildschirm. Oder, um Teilnehmende zu zitieren: „Wie spüre ich Energie im Raum? – kann ich hier nicht wirklich erfassen“, oder: „Es braucht eine härtere Dosis, um Gefühle zu erfassen“. Nun möchte man meinen, dass das abgeschwächte Atmosphärische Missverständnisse minimieren, ja sogar verhindern könne. Es stünde schließlich alles Schwarz auf Weiß. Leider, so konnte ich leidvoll erfahren, ist oft das Gegenteil der Fall. Geschriebenes wird missverstanden, es wird nicht kommuniziert, weil sich das Missverstandene nicht über den Bildschirm zeigt. Das wiederum führt zu Kommunikationsblockaden, die oft erst mit erheblicher Verzögerung wahrnehmbar werden. Oder, anders formuliert: Reaktionen verschleppen und verzögern sich, Aufklärungen erfolgen nicht zeitnah bzw. gar nicht. (Aus Erfahrungsberichten wissen wir, dass es wesentlich leichter ist, über den Bildschirm miteinander in Kontakt zu kommen, wenn sich die Teilnehmenden zuvor mindestens einmal in einer Präsenzveranstaltung getroffen haben). Online bin ich in einem kognitiven Modus mit den Teilnehmenden in Kontakt. Wir tauschen Informationen aus, wir antworten auf Fragen, wir diskutieren an Themen. Atmosphärisch, auf einer persönlichen Ebene bin ich nicht angekoppelt. Ich bin also nicht wirklich in Kontakt. Zwischen den Teilnehmenden und mir, wie auch zwischen den Teilnehmenden untereinander, befindet sich ein Medium, die Technik, die Übertragung, die den persönlichen Kontakt, die Emotionen und Stimmungen dämpft. Interessanterweise ist es aber gerade dadurch auch möglich, Dinge direkt anzusprechen. In einem Online-Gruppendynamikseminar mit Studierenden hat eine Teilnehmerin mit einem jungen Mann, auch Teilnehmer, geflirtet, wissend, dass der Mann aufgrund der realen räumlichen Distanz und der geltenden Reiseeinschränkungen ihr nicht wirklich zu nahe kommen konnte. Die fehlende Resonanz, ein Begriff, der auf Hartmut Rosa zurückgeht, hat nicht nur Möglichkeiten des In-Kontakt-Kommens verhindert, sondern hat es gleichzeitig ermöglicht in einer Sicherheit vermittelten Distanz Kontakt herzustellen. Trotzdem: Eine emotionale Berührung oder körperliche Nähe im Online-Modus schwächelt. „Emotionen sind schwer zu erkennen“, wie ein Teilnehmer bemerkte. Hartmut Rosa (2021) führt, in einem Interview mit Peter Unfried, Chefreporter der taz, die durch die Corona Krise bedingte soziale Isolierung und die damit einhergehende Rast- bzw. Antriebslosigkeit auf „kurzgetaktete hohe Stimulationsdichte bei niedrigem Resonanzwert“, wie beispielsweise in sozialen Netzwerken üblich, zurück. „Die Energie, die wir haben und in soziale Interaktion umsetzen, kommt aus der dichten Interaktion selber. Auch aus der irritierenden Interaktion, wenn mich zum Beispiel jemand anrempelt. (...) Wir sehen jetzt, wie sehr wir das Irritierende, das Überraschende, die erfreuliche oder unerfreuliche soziale Interaktion brauchen, um aus unseren Routinen, auch den gedanklichen, herauskommen zu können. Dieser digitale Austausch, den wir jetzt machen, ist gut, um schnell Informationen auszutauschen“ (Rosa, 2021). Teilnehmende reagieren unterschiedlich auf Resonanzdeprivation. Die einen beklagen die Situation der coronabedingten Online-Kommunikation (gleich einem Ritual in fast jeder Anfangsrunde), wohingegen andere durchaus Gefallen an den technischen Möglichkeiten einer Online-Kommunikation finden.

4 Verdichtete Zeit

Die Rückschau auf ein Jahr Online-Kommunikation zeigt einen paradoxen Befund. Vor der Krise war ich dauernd unterwegs, bin von einem Vortrag, von einem Workshop, von einer Konferenz, von einer Lehrveranstaltung zur anderen gereist. Immer im Auto, in der Bahn oder im Flugzeug. Heute sitze ich vor meinem Bildschirm, um mich herum ein leerer Raum. Und dennoch bin ich immer wieder woanders. „Ich bin rasend unterwegs, von einem Ort zum anderen, aber physisch komplett stillgestellt“ (Rosa, 2021). Obwohl die Coronakrise die Welt in vielen Bereichen gebremst und entschleunigt hat, haben sich andererseits Prozesse beschleunigt. Damit meine ich nicht nur die rasante Entwicklung von Impfstoffen oder die Formulierung von Verordnungen, sondern, auf unser Thema bezogen, die zeitlichen Veränderungen und Verdichtungen in der Online-Lehre. Die Lehreinheiten werden ohne Informationsverlust kürzer. Metaplanwände und Flipcharts werden nicht in der Situation entwickelt, beschrieben und/oder beklebt; das Material ist vorgefertigt und Power Point (ppt) mäßig aufbereitet. Die Sinnlichkeit, die durch das handschriftliche Entwickeln eines Charts, einer Skizze oder einer Zeichnung entsteht, wird durch ppt nicht vermittelbar. Was in Präsenzveranstaltungen hintereinander geschieht, findet nun gleichzeitig statt. Getratscht wird während Präsenzveranstaltungen in den Pausen, bei einem Spaziergang oder zwischen Tür und Angel. In Online-Pausen sind die Teilnehmenden alleine oder mit Partnern oder Familien – jedenfalls nicht mit anderen Teilnehmenden. Das Informelle verlagert sich ins Formelle. Gleichzeitig finden mehrere Kommunikationen statt. Neben der offiziellen Veranstaltungskommunikation findet ein mehr oder weniger reger Austausch im Chat, im privaten Chat (mit ausgewählten Teilnehmenden), in Mails, Signal u.a.m. statt, der nicht sichtbar ist. Mit der Zeit lernte ich auf bestimmte Reize aufmerksam zu werden: Ein abwesender oder lächelnder Gesichtsausdruck, eine klappernde Tastatur im Hintergrund, eine Bewegung im Raum. Ein Kollege nannte dieses Phänomen unlängst „Zeitegoismus“ und meinte damit, dass er, auch wenn in einer Onlinekonferenz physisch als Bildschirmkachel anwesend, nicht alle Zeit mit den anderen teilen müsse und durchaus nur mit einem halben Ohr an der Kommunikation teilnehmen könne. Das, was wir in Präsenzveranstaltungen als Schwätzen geahndet hätten, findet nun unter dem Radar statt. Ich fühle mich manchmal in meine Schulzeit zurückversetzt, als wir wichtige Informationen, die keinen Aufschub duldeten, auf Zettel geschrieben unter den Bankreihen durchgereicht hatten. Die Arbeit im Homeoffice erlaubt eine weitgehend selbstbestimmte Zeitgestaltung. Abgesehen von fixen Online-Terminen macht man Zeitkompromisse mit sich selbst. Der Tag beginnt nicht mit dem morgendlichen Gang ins Büro und er endet auch nicht mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes,
denn der ist jetzt zu Hause. Was man wann und wo erledigt, liegt in der eigenen Zeitgestaltung.

5 Der virtuelle und der reale Raum

In der Online-Veranstaltung nehmen wir als „Büsten“, quasi ohne Unterleib teil, die in Kacheln auf dem Bildschirm erscheinen. Was wir aber auch sehen, sind die Hintergründe, den Raum, in dem sich die Teilnehmenden befinden. Verdeckte, offene, virtuelle Hintergründe zieren die Kacheln. Immer wieder mal laufen Katzen oder Hunde durch das Bild, einmal waren es auch Kinder, die mütterliche Fürsorge gerade ganz dringend gebraucht hatten. Gerade in prozess- und erfahrungsorientierten Veranstaltungen benötigt das Lernen einen intimen Raum, wo Teilnehmende sich Dinge anvertrauen können, sich in bestimmten Verhaltensweisen ausprobieren können. Der Raum hinter dem Bildschirm ist nicht geschlossen. Kann ich also darauf vertrauen, dass sich niemand anderer im Raum befindet? Teilnehmende gestalten den Raum und das, was in diesem sichtbar sein soll. Manche stellen Lichtverhältnisse so her, dass sie selbst immer im Schatten oder im Gegenlicht zu sehen bzw. nicht zu sehen sind. „Es ist eine Entlastung, nicht immer präsent sein zu müssen“, meinte eine Teilnehmende. Auch die Sitzordnung ist keine frei gewählte und bleibt dadurch aussagelos. Zudem sieht jede Person eine andere Anordnung der Kacheln, die sich noch dazu während einer Sitzung bewegen. Auch technische Pannen verändern den Raum, wenn dadurch Teilnehmende zeitweise verschwinden und sich erst wieder neu einwählen müssen. Für andere Teilnehmende wiederum ist es irritierend, sich selbst zu sehen, sie blenden sich aus oder sind nur mehr als Namenszug wahrnehmbar.

6 Spiele mit der Technik

Wenn man die Technik beherrscht, lassen sich ungeahnte Interventionsmöglichkeiten damit erzeugen. Als Lehrende bin ich immer auch Moderatorin im Online-Geschehen. Mit dieser Rolle habe ich die Macht der Freigabe. Was also erlaube ich den Teilnehmenden technisch zu tun oder auch nicht? In prozessorientierten Veranstaltungen gebe ich die technischen Möglichkeiten frei. Mit anderen Worten, ich gebe die Moderatorenrechte an die Teilnehmenden weiter. Da jüngere
Teilnehmende meist technikaffiner sind als ich es je sein werde, bleiben die Überraschungsmomente nicht aus. Neben der schon erwähnten regen Nutzung anderer Kommunikationswege können sich die Teilnehmenden gegenseitig stumm schalten. Immer wenn eine Person zu lange oder zu langweilig spricht, wird er/sie „gemutet“. Auch die Autorität der Moderation kann, so habe ich erfahren, technisch untergraben werden. Gleichzeitig ergibt sich aus den Aktionen der
Teilnehmenden eine unglaubliche Besprechungsdynamik, deren Reflexion der Gruppenprozessentwicklung durchaus förderlich ist. Ich erlebte Präsentationen von Kleingruppenarbeiten, die unter der Ausnutzung der technischen Möglichkeiten unglaublich kreative Resultate erbrachten.

7 Fazit

Ich habe viel gelernt in diesem letzten Jahr. Darüber, was alles im Online-Format möglich ist aber auch das, was nicht möglich ist und vermisst wird. Vielleicht wird es gelingen, die positiven Erfahrungen auch in der Zukunft und auch in Präsenzveranstaltungen umzusetzen. Gleichzeitig sind die Online-Möglichkeiten einer kreativen Lehre bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Auch daran würde ich gerne weiterlernen und forschen.

von Karin Lackner

Karin Lackner

Professorin (i.R.). Lehrstuhl für Organisationsberatung, Supervision und

Coaching an der Universität Kassel.

Lehrberaterin und Lehrtrainerin (ÖGGO), Mitglied der DGSv.

Gründung und Leitung des Instituts für Organisationsdynamik (IFO).

Beratungs-, Trainings- und Forschungstätigkeit im In- und Ausland.