Carina Sacher/LukasVejnik: Zentren geistiger Stadterweiterung: Die Wiener Volkshochschulen in der Zweiten Republik

Konsumfreie Begegnungsorte sind auch im zeitgenössischen Wien der ersten Periode „geistiger Stadterweiterung vor dem Zweiten Weltkrieg sowie dem (Wiederauf)bau von Infrastrukturen in den 1950ern und 1960ern für die Erwachsenenbildung zu verdanken.

Die Stadt Wien ist international bekannt für ihren kommunalen Wohnbau, mit dem Karl Marx Hof als markantes Zeugnis. Weit vor den Sozialwohnbauprogrammen der 1920er-Jahre setzte, ausgehend von Vereinen, die Schaffung von Räumen für die Volksbildung ein. Das Volksheim Ottakring, der Volksbildungsverein Margareten und die Wiener Urania gehören mit ihren eigenen Häusern zu dieser ersten Periode „geistiger Stadterweiterung“1, die durch die Wirtschaftskrise sowie die darauffolgende Phase faschistischer Regime stagnierte und schließlich mit dem Zweiten Weltkrieg ihr vorläufiges Ende fand2 .

Nach 1945 ging die Stadterweiterung Hand in Hand mit dem Bau von Infrastrukturen für die Erwachsenenbildung. Wesentlicher Unterschied zur Jahrhundertwende: Nun errichtete die Stadt die Gebäude und übergab diese zur Nutzung an die Volkshochschule. Der aus dem australischen Exil zurückgekehrte Volksbildner Wolfgang Speiser prägte sowohl die architektonische als auch die programmatische Ausrichtung der in den Neubausiedlungen ab den 1950er-Jahren errichteten Volksheime mit. Diese kleinteiligen, eingeschossigen Nachbarschaftsheime mit flexiblem Veranstaltungsraum, Buffet und Klubräumen orientierten sich am Vorbild der noch vor dem Krieg in England gebauten community centres.

Zentrale Figur für die Planung der Wiener Volksheime war Architekt Franz Schuster, der während der NS-Zeit ununterbrochen tätig gewesen ist. Zusammen mit Franz Schacherl veröffentlichte er 1926 ein Manifest mit Musterentwürfen für „Proletarische Kulturhäuser“. Das 1955 eröffnete Volksheim in der Per-Albin-Hansson-Siedlung ist Ausdruck dieser raumpädagogischen Auseinandersetzung.

Mit dem großmaßstäblichen Haus der Begegnung wurde ab Mitte der 1960er-Jahre ein neuer Typus entwickelt, der an wichtigen städtischen Knotenpunkten als soziale Drehscheibe andockte. In Kombination mit zusätzlichen Funktionen wie Bücherei, Bezirksamt, Jugendzentrum oder Musikschule drehte sich die Nutzung der Bauten um die großzügigen Veranstaltungssäle. Nicht nur das die bildungspolitische Aufgabe der Erwachsenenbildung verwässernde Image durch externe Einmietung, sondern auch die nüchterne Architektursprache waren Angriffspunkte für zeitgenössische Kritik3 .

Die Erforschung und Neubewertung der Volkshochschulbauten dient nicht nur einem kritischen Hinterfragen bisheriger Rezeptionsdiskurse, sondern auch der theoretischen Erschließung einer bis heute eher unbeachteten Architektur- und Stadtplanungspolitik des Roten Wiens in der Zweiten Republik. Sie sind Zeugnis bildungspolitischer Ziele und gemeinschaftsorientierter Raumproduktion, die, mit dem Begriff des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt ausgedrückt, bis heute einen städtischen „Raumpolster“ darstellen. In Anbetracht der Kommerzialisierung von Raum bieten die Gebäude Ansätze konsumfreier öffentlicher Innenräume und – mit ihrem vielschichtigen Angebot sowie einer open door policy – niederschwellige Orte der Begegnung.

1 Der Begriff „geistige Stadterweiterung“ geht auf den Erwachsenenbildner Eduard Leisching zurück.
2 Vor dem Zweiten Weltkrieg kam 1934 die Volkshochschule Alsergrund in einem ehemaligen Amtsgebäude hinzu.
3 Siehe beispielsweise Wilhelm Fillas Analyse „Die Häuser der Begegnung in Wien“ aus dem Jahr 1975

Foto der VHS Großjedlersdorf

Carina Sacher und Lukas Vejnik
sind ausgebildete Architekt/innen und forschen, lehren und schreiben freiberuflich in den Bereichen Architektur, Baukultur und Stadt.